Zwischen Goethe und Marx

Zum 50. Todestag von Georg Lukács

von Dr. Ulrich Wolf

Am 4. Juni jährte sich zum 50. Mal der Todestag des bedeutenden ungarischen Kulturphilosophen und Marxisten Georg Lukács. Als Lukács 1971 im Alter von 86 Jahren starb, hinterließ er nach einem politisch und intellektuell bewegten Leben ein schier unübersehbares Gesamtwerk, das bereits in einer 1965 erstellten Bibliographie an die 900 Titel umfaßte. Mit seinen Studien über die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas und die Theorie des Romans1 gelangte er in der bürgerlichen Welt zu frühem Ruhm. Die Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein2 ist für mehrere Generationen von jungen kritischen Intellektuellen Vermittlung zum Marxschen Denken und Ansatzpunkt für revolutionäre politische Praxis gewesen.3 Schließlich war Lukács auch aktiver Politiker; daß er dabei nachhaltig scheiterte, ist symptomatisch für das prekäre Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, zwischen Intellektuellem und Partei in der sozialistischen/kommunistischen Bewegung. Grund genug, sich dieses nach Lenin sicherlich einflußreichsten Marxisten des 20. Jahrhunderts 4 zu erinnern.

Vom bürgerlichen Ästhetizismus zum politischen Revolutionär

Lukács wurde am 13. April 1885 in Budapest geboren. Sein Vater war jüdischer Abstammung und wurde 1901, inzwischen Direktor einer führenden ungarischen Bank, von den Habsburgern geadelt. Da seine Mutter Österreicherin war, wuchs Lukács zweisprachig auf. Erzogen nach den Werten eines kulturbeflissenen großbürgerlichen Milieu, wendet er sich schon als Schüler der Literatur zu. Er schreibt Dramen, die er als 18jähriger verbrennt, weil sie nach seiner Überzeugung so „entsetzlich schlecht“ waren. 1904 ist er in Budapest Mitgründer der Thalia-Bühne. Seinen Ruhm als Autor von philosophisch-ästhetischen Essays begründete er mit der 1911 erschienenen Aufsatzsammlung Die Seele und die Formen. Den lebensphilosophischen Hintergrund dieses Frühwerks charakterisierte er rückblickend als den Versuch, „die innere Struktur (…) gewisser typischer menschlicher Verhaltensformen zu verstehen und mittels der Darstellung und Analyse der Lebenskonflikte mit den literarischen Formen in Zusammenhang zu bringen.“5 In dieser Zeit ist Lukács sehr stark von dem Soziologen und Philosophen Georg Simmel beeinflußt, bei dem er in Berlin Seminare besucht und dessen persönlicher Schüler er wird. In Heidelberg, wo 1918 seine Habilitationspläne endgültig scheitern (Lukács ist „Ausländer“ und „Jude“), gehört er während des Krieges zum Kreis um den Soziologen Max Weber. Nicht untypisch für die intellektuelle Physiognomie dieser Zeit ist eine Anekdote, die Helmut Plessner überliefert hat: „Wer sind die vier Evangelisten, fragte man damals: Marcus, Matthäus, Lukács und Bloch.“6 Sowohl Bloch mit seinem Frühwerk Geist der Utopie (1915) wie auch Lukács gehörten also am Vorabend der Oktoberrevolution zu jener geistigen Strömung, deren Basis Lukács später als „naiven und völlig unfundierten Utopismus“7 bezeichnete. „Damals erblickte ich im Weltkrieg eine Krise der gesamten europäischen Kultur; die Gegenwart betrachtete ich – mit den Worten Fichtes – als das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, als eine Krise der Kultur, aus der nur ein revolutionärer Ausweg möglich ist. Natürlich beruhte dieses ganze Weltbild noch auf rein idealistischen Grundlagen, und dementsprechend hätte sich die ‘Revolution’ nur auf geistiger Ebene abspielen können.“8

So kam Lukács messianisch – überschwenglich zum Marxismus. In die Zeit des 1. Weltkrieges fallen unterschiedliche, ja widersprüchliche geistige und politische Einflüsse. Neben dem Versuch, die Krise der europäischen Kultur in einer utopisch-kunstphilosophischen Perspektive zu überwinden – am deutlichsten erkennbar in der 1914/15 geschriebenen Theorie des Romans – tritt nun eine zweite Phase der intensiven Beschäftigung mit Marx, dessen Frühschriften Lukács entdeckt und mit der idealistischen Geschichtsphilosophie Hegels verbindet. Gleichzeitig ist er stark beinflußt durch den ungarischen Linkssozialisten Ervin Szabo, der ihn auf den Syndikalismus Sorels aufmerksam macht und liest die Vorkriegsschriften von Rosa Luxemburg. Diese theoretischen Einflüsse begründeten wohl seine lebenslang andauernde Abneigung gegen die Sozialdemokratie, in dieser Zeit namentlich gegen Kautsky, der auf ihn einen „geradezu abstoßenden Eindruck“9 macht. Obwohl ihm nach eigenem Bekunden der imperialistische Charakter des Krieges zunehmend klarer wird, bleibt er als akademischer Intellektueller vorerst noch von der Arbeiterbewegung getrennt. Dies ändert sich erst nach den Revolutionen 1917/18, die Lukács in einer Phase der „ideologischen Gärung“10 treffen. Nach kurzem Zögern wird er im Dezember 1918, völlig überraschend für seinen Bekanntenkreis, Mitglied der soeben gegründeten Kommunistischen Partei Ungarns (KPU). Daß dabei die positive Stellungnahme seiner späteren Frau Gertrud Bortstieber eine zentrale Rolle gespielt hat, sei hier ausdrücklich erwähnt.

Die erste Station von Lukács’ Tätigkeit als Politiker ist ebenso kurz wie dramatisch. Nach der Ausrufung der ungarischen Räterepublik ist er von März bis August 1919 zunächst stellvertretender Volkskommissar, dann Volkskommissar für das Unterrichtswesen in der Räteregierung Bela Kun und politischer Kommissar der 5. Roten Division. Nach dem militärischen Gegenangriff der Konterrevolution und dem Sturz der Rätediktatur gelingt ihm die Flucht nach Wien, wo er im Oktober verhaftet wird. Gegen die drohende Auslieferung und Hinrichtung erscheint daraufhin in zahlreichen deutschen Zeitungen ein Aufruf „Zur Rettung von Georg Lukács“, den u.a. Alfred Kerr und die Brüder Heinrich und Thomas Mann unterschrieben hatten. Ende 1919 wird Lukacs von den Wiener Behörden freigelassen.

Geschichte und Klassenbewußtsein

In der Zeit des Exils in Wien ist Lukács weiterhin als Mitglied des Zentralkomitees der KPU tätig. Als leitender Redakteur der Zeitschrift Kommunismus gehört er Anfang der 20er Jahre zum ultralinken Flügel der Kommunistischen Internationale. Rückblickend charakterisierte Lukács diese Position als „messianisches Sektierertum“, das im ungebrochenen Glauben an die nahende Weltrevolution bestrebt war, „in allen Fragen die allerradikalsten Methoden“ auszuarbeiten und „auf jedem Gebiet einen totalen Bruch mit allen aus der bürgerlichen Welt stammenden Institutionen, Lebensformen etc.“11 anstrebte. Als Lukács einen polemischen Aufsatz gegen die Teilnahme der kommunistischen Parteien an bürgerlichen Parlamenten schreibt, erwidert Lenin in scharfer Form: „Der Artikel von G.L. ist ein sehr radikaler und sehr schlechter Artikel. Der Marxismus darin ist ein Marxismus der bloßen Worte..“12 Dies hätte Lenin wohl auch, wenn er es noch hätte lesen können, zu Lukacs’ berühmtesten Buch, der 1923 im Malik Verlag erschienen Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein gesagt, das in den 20er Jahren eine erste tiefe Wirkung auf die junge Intelligenz ausgeübt hat. Lukács interpretiert darin das Marxsche Denken als historisch-materialistische Aufhebung der Hegelschen Dialektik und wendet sich damit entschieden sowohl gegen einen schlichten Ökonomismus wie auch gegen eine unhistorische Dogmatisierung einzelner Bestandteile der Marxschen Lehre. „Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet entscheidend den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität.13“ Erst die Analyse der „konkreten Totalität“ (Marx) eröffnet die Möglichkeit, alle einzelnen Phänomene der kapitalistischen Gesellschaft in ihrem Zusammenhang wissenschaftlich zu erkennen. Dies ist nach Lukács das wesentliche Kriterium des „orthodoxen Marxismus“: die Überzeugung, daß „im dialektischen Marxismus die richtige Forschungsmethode gefunden wurde, daß diese Methode nur im Sinne ihrer Begründer ausgebaut, weitergeführt und vertieft werden kann.“14 Jedoch ist die Totalitätskategorie nicht nur erkenntnistheoretisch zentral, sondern aus ihr ergibt sich auch erst die Möglichkeit der revolutionären politischen Praxis: „Da das Proletariat von der Geschichte vor die bewußte Umwandlung der Gesellschaft gestellt ist, muß in seinem Klassenbewußtsein der dialektische Widerspruch des unmittelbaren Interesses zum Endziel, des einzelnen Momentes zum Ganzen entstehen.“15 Dabei besitzt das, was Lukács unter Klassenbewußtsein versteht, keine empirische Qualität: denn es ist „die Ethik des Proletariats, die Einheit seiner Theorie und seiner Praxis, der Punkt, wo die ökonomische Notwendigkeit seines Befreiungskampfes dialektisch in Freiheit umschlägt“. Und insofern kann nur die kommunistische „Partei als geschichtliche Gestalt und als handelnde Trägerin des Klassenbewußtseins“16 die selbständige und für die Lohnabhängigen anschauliche Form des Klassenbewußtseins darstellen.

Lukács selbst hat später diese idealistische Überhöhung des Proletariats als sich seiner selbst bewußt werdendes „identisches Subjekt-Objekt der Menschheitsgeschichte“ zurecht als ein „Überhegeln Hegels“ bezeichnet, als eine „Konstruktion, die an kühner gedanklicher Erhebung über die Wirklichkeit objektiv den Meister selbst zu übertreffen beabsichtigt.“17

Jedoch auch wenn dieser utopisch – idealistische Grundzug unverkennbar ist: Geschichte und Klassenbewußtsein ist allemal ein lehrreiches Buch. Insbesondere die Aufhellung der Strukturbeziehungen zwischen der idealistischen Dialektik Hegels und der materialistischen – „auf die Füße gestellten“ -Dialektik im Marxschen Denken sowie die auf außerordentlich hohem Niveau durchgeführte kritische Analyse der bürgerlichen Philosophie und deren Beziehungen zum Phänomen der Verdinglichung in der kapitalistischen Warengesellschaft18 machen es auch heute noch lesenswert.

Politisches Scheitern und Rückzug in die ästhetische Theorie

1924 wird Lukács gemeinsam mit anderen „Linksabweichlern“ (u.a. Korsch und Bordiga) auf dem V. Weltkongreß der Komintern scharf kritisiert und muß sich von Geschichte und Klassenbewußtsein öffentlich distanzieren. Gleichwohl gehört er weiterhin zum Führungskreis der illegalen KPU in Wien. Hier steht er schon seit Anfang der 20er Jahre in Opposition zum Sinowjew-Zögling Bela Kun und gehört zur Fraktion um den ehemaligen Linkssozialdemokraten Jenö Landler, der in der ungarischen Räterepublik Volkskommissar des Innern gewesen war. 1924/25 kommt es über der Frage der Haltung zu den Gewerkschaften faktisch zur Spaltung der Partei. Als Kun und seine Leute irrsinnigerweise die Verweigerung der Gewerkschaftsbeiträge verlangen, weil diese den sozialdemokratischen Parteibeitrag mit einschließen19 (was praktisch einem Selbstmord der illegal arbeitenden ungarischen Kommunisten gleichgekommen wäre) treten Landler und Lukács aus dem ZK zurück. Da bereits zuvor die Beziehungen zum linken Flügel der SPÖ intensiviert worden sind, erscheint nun jedoch die Gründung einer neuen Partei möglich: Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) solldie strategische Aufgabe bewältigen, in Ungarn nach dem Sturz der Horthy-Diktatur die Demokratie und die Republik wiederherzustellen. Da Landler 1928 stirbt, fällt Lukács die Aufgabe zu, dafür einen Programmentwurf zu schreiben.

Das Programm der „Demokratischen Diktatur“ ist das Kernstück der sogenannten Blum-Thesen (Blum war sein Pseudonym in der Wiener Illegalität), die Lukács 1928 zur Vorbereitung des II Parteitages der KPU verfaßt. Im Gegensatz zum Kun-Flügel, der an der Diktatur des Proletariats festhält, propagieren die Blum Thesen „die vollkommene Verwirklichung der bürgerlichen Demokratie“, welche die „Möglichkeit“ darstelle, „jene organisatorischen Formen zu schaffen, durch deren Hilfe die breiten Massen der Arbeiter ihre Interessen der Bourgeoisie gegenüber zur Geltung bringen“20 Als das Exekutivkomitee der Komintern daraufhin einen offenen Brief21 veröffentlicht, in dem – schon ganz im stalinistischen Duktus des Kampfes gegen den „Sozialfaschismus“ – die Unvereinbarkeit der Thesen mit dem Bolschewismus, Liquidatorentum, bürgerlicher Reformismus und Anpassung an die Sozialdemokratie kritisiert wird, muß sich Lukács erneut von sich selbst distanzieren, um nicht aus der Partei ausgeschlossen zu werden. Es entbehrt nicht eines gewissen – für Lukács typischen – Zynismus, wenn er diese Selbstkritik 1967 als „Eintrittkarte“ bezeichnet, um sich am „Kampf gegen den nahenden Faschismus aktiv zu beteiligen“22. Die Konsequenz war für ihn jedoch klar: Rückzug aus der aktiven Politik, um sich nun ganz auf die theoretische Arbeit zu konzentrieren. Freilich hatte er mit den Blum – Thesen eine politische Plattform formuliert, die von nun an „den Leitfaden“ für seine „weitere theoretische wie praktische Tätigkeit abgab“23.

Abgesehen von einem Zwischenaufenthalt in Berlin (1931-33) wo er im Auftrag der Komintern im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) an der Ausarbeitung einer neuen literaturpolitischen Linie beteiligt ist, verbringt Lukács die Zeit zwischen 1930 und 45 in Moskau. Hier entstehen nun die großen Arbeiten über den historischen Roman und den Realismus in der Erzählkunst sowie seine Studien zur marxistischen Ästhetik Ganz auf dem Boden der Blum -Thesen entwirft er hier, in der „machtgeschützten Innerlichkeit“ (Thomas Mann) des Hochstalinismus, sein Programm einer „Ästhetik der revolutionären Demokratie“24, wobei ihm das Erbe der klassischen, bürgerlich-realistischen Literatur als ästhetische Norm gilt. Klassik in diesem Sinne verstand Lukacs als „Summe des in einer Gesellschaftsform kulturell und damit sozial verbindlich Erreichten. Dies mußte freilich für ihn objektiviert, in Form gebracht und auf Dauer gestellt sein.“25 In der künstlerischen Formgebung wird die extensive, unendlich reichhaltige Totalität der Wirklichkeit zur intensiven Totalität des Kunstwerks verdichtet. Kunst hat insofern die Funktion einer „richtigen Widerspiegelung des Gesamtzusammenhangs“26, wobei diese jedoch nicht mechanisch, als photographische Abbildung mißverstanden werden darf, sondern als durch -subjektiv-künstlerische Gestaltung vermittelte Herausarbeitung des Wesentlichen und Typischen. Von hier aus wird deutlich, warum für Lukács gerade der bürgerliche Roman des 19. Jahrhundert eine ästhetische Vorbildfunktion erhält: die großen epischen Gestaltungen eines Goethe, Balzac, Tolstoi und Keller entfalten ein gesellschaftliches Panorama, in dem das Denken und Handeln typischer, d.h. durch die soziale Struktur geprägter Individuen gezeigt wird. Ist die große, wirklich bedeutende Kunst auf der einen Seite maßgeblicher Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der menschlichen Gattung über ihre eigene, jeweils konkret gesellschaftlich geprägte Geschichte, hat sie auf der anderen Seite eine humanisierende Funktion. In gewisser Weise knüpft Lukács damit an Schillers Programm einer ästhetischen Erziehung an: „Durch Schönheit zur Freiheit“ bedeutete für ihn, daß der Sozialismus/Kommunismus ohne die – auch ethische – Wirkung der Kunst von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Damit war es ihm schon als Volkskommissar für das Unterrichtswesen 1919 bitter ernst. In einer Verordnung verfügte er: „Wer Theaterkarten zu einem höheren Preis als auf ihnen angegeben verkauft, vergeht sich nicht allein gegen die Proletarierehre, sondern verübt auch eine Strafhandlung und wird vor ein Revolutionsgericht gestellt“.27

Die in der sog. „Expressionismusdebatte“ 1937/38 zutage tretende Einseitigkeit von Lukács’ Position, den Realismus in der Literatur strikt am Hauptparadigma des bürgerlichen Romans von Balzac bis Thomas Mann festzumachen und dies als ästhetische Norm für sozialistisch-realistische Literatur zu definieren, ist vielfach kritisiert worden. Nicht zu unrecht, hat er doch, wie etwa seine schroffe Ablehnung von Joyce und Kafka, aber auch des Brechtschen Realismuskonzepts,28 dokumentiert, fruchtbare Neuansätze in der Literatur geradezu „verbarrikadiert.“29 Gleichwohl gilt es bei aller Kritik zu bedenken: Lukács ging es kulturpolitisch immer auch um eine Volksfrontstrategie, d.h. um das Bündnis mit den aufgeklärten und humanistisch gesinnten Teilen des Bürgertums, Schließlich hat er mit seinen Studien über den historischen Roman, über Goethe und seine seine Zeit sowie den kritischen Realismus bei Thomas Mann Maßstäbe für eine am historisch-materialistischen Denken sich orientierende Ästhetik gesetzt, hinter die marxistische Literaturwissenschaft nicht mehr zurückfallen kann.

Das Spätwerk: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins

Nachdem er 1945 aus dem sowjetischen Exil nach Ungarn zurückgekehrt war, gelangte Lukács auf den Höhepunkt seines Ruhms. Seine Beteiligung an zahlreichen Kongressen und Kontroversen (etwa mit Heidegger und Sartre) bezeugen seinen internationalen Einfluß. In dem ebenso monumentalen wie umstrittenen Werk Die Zerstörung der Vernunft rechnete er nun mit den irrationalistischen Strömungen in der bürgerlichen Wissenschaft und Philosophie ab, die nach seiner Auffassung die geistigen Wegbereiter des Faschismus gewesen waren. Im eigenen Land war er freilich weniger erfolgreich. Nachdem er bereits 1949 und 1951, wiederum wegen „Rechtsabweichung“, von den Vertretern der stalinistischen Orthodoxie scharf angegriffen worden war, folgte 1956 erneut eine Episode als (gescheiterter) Politiker. Für kurze Zeit rückte er ins ZK der KPU und wurde in der Regierung Nagy Minister für Volksbildung. Nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes durch sowjetische Panzer wurde er nach Rumänien deportiert und in einem alten Schloß interniert. Erst im April 1957 kehrte er nach Budapest zurück. Seinen behaglichen Sinn für Boshaftigkeiten dokumentierte er hernach mit dem Satz, es sei ihm ergangen wie im Kommunismus: er habe alles zum Leben Nötige gehabt – bloß kein Geld. Nach dem fälligen Ausschluß aus der Partei (in die er erst 1969 wieder aufgenommen wurde) lebte er als Privatgelehrter und konnte sich nun ganz der theoretischen Arbeit widmen. 1963 erschien der erste Band seiner großen Ästhetik im Rahmen der großen Werkausgabe im Luchterhand Verlag. Erst nach seinem Tode wurde sein letztes monumentales Werk Zur Ontologie des gesellschaftlichen Sein veröffentlicht. Mit diesem beabsichtigte er die Summe seines philosophischen Denkens zusammenzufassen. Kritisch anknüpfend an Geschichte und Klassenbewußtsein 30und zentrale Gedanken der 1938 verfaßten Studie Der junge Hegel (auch heute noch eine der besten Einführungen in das Hegelsche Denken!), verband er mit der Ontologie nicht weniger als die Absicht, die authentischen theoretischen Grundlagen des Marxismus in allgemeiner philosophischer Form zu rekonstruieren. Seine politische Intention charakterisierte er 1969 in einem Brief an einen sowjetischen Freund: „Hier betrachtet man mich als Revisionisten, während sie mich auf der anderen Seite (d.i. im Westen, Hervorh. von mir, U.W.) zu einem Stalinisten machen. Solange das Problem der wirklichen Natur des Marxismus nicht theoretisch geklärt ist, kann sich diese Situation nicht ändern. Es muß vor allem deutlich gemacht werden, daß Lenin der wirkliche Nachfolger von Marx war, während Stalin im wesentlichen eine Verfälschung des Marxismus, oder bestenfalls dessen Vulgarisierung verkörperte.“ 31

In der Ontologie knüpfte Lukács zunächst an die Theorie des Schichtenbaus des Seins an, die der deutsche Philosoph Nicolai Hartmann entwickelt hatte. So wie das organische Sein der Natur auf der anorganischen Seinstufe aufbaut, setzt das „gesellschaftliche Sein im ganzen und in allen Einzelprozessen .. das Sein der unorganischen und organischen Natur voraus.“32 Dies ist das Grundprinzip der materialistischen Ontologie, wobei hervorzuheben ist, daß Lukács‘ Seinsbegriff im Unterschied zu dem der Tradition (Aristoteles etc.) nicht statisch ist: vielmehr ist Sein der Inbegriff irreversibler Geschichtlichkeit. In diesem historischen Prozeß wachsen die Gegenständlichkeitsformen oder Kategorien der höheren Seinstufe aus denen der unteren heraus und überformen diese. Dies gilt auch für das gesellschaftliche Sein, dessen Gegenständlichkeitsformen „im Laufe des Entstehens und der Entfaltung der sozialen Praxis aus dem naturhaften Sein“ hervorgehen und mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität, dem „Zurückweichen der Naturschranke“ (Marx), „immer ausgesprochener gesellschaftlich“33 werden. Für die historisch-materialistische Ontologie des gesellschaftlichen Seins wird somit die Arbeit zur zentralen Kategorie. Hier knüpft Lukács an die berühmte Formulierung von Marx im 1. Band des Kapital an, derzufolge der schlechteste Baumeister der besten Biene voraus habe, „daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.“34 Im teleleogischen (zweckbezogenen) Akt der Arbeit steckt die ideelle Vorwegnahme des Arbeitsprodukt, diese geht formbestimmed in die neue – gesellschaftliche – Gegenständlichkeitsform ein. Gilt einerseits, daß mit „dem Akt der teleologischen Setzung das gesellschaftliche Sein an sich da“,35 so wird andererseits das Bewußtsein auf dieser Seinsstufe zu einer realen Seinsmacht und hört auf ein Epiphänomen zu sein. Erst dies ermöglicht die bewußte Planung und Steuerung von gesellschaftlichen Prozessen – auch jenseits der Entwicklungslogik der kapitalistischen Produktionsweise, deren unbewußtes Bewegungsgesetz die „Verwertung des Werts“ (Marx) ist.

Es kann hier nicht in extenso auf die kritische Diskussion um Lukacs’ Spätwerk eingegangen werden. Neben der Kritik von Seiten der marxistischen „Orthodoxie“, die Ontologie sei eine „Modeschöpfung des Idealismus36, sind hier insbesondere die Einwände seiner eigenen Schüler (Agnes Heller u.a.)37zu berücksichtigen. In der Tat kann auch eine radikal historische Ontologie dem Widerspruch zwischen unhistorischem System und historisch-diialektischer Methode nur schwer entgehen. Vielleicht ist es aber auch so: Lukács sah die Möglichkeit kommender finsterer Zeiten, in denen das Licht der historisch-materialistischen Vernunft zu verlöschen droht. Mit der Ontologisierung des Marxismus wollte er Pflöcke einschlagen und Vorkehrungen gegen dessen Verschwinden treffen.

Literatur:

Beyer, Wilhelm Raimund (1970): „Marxistische Ontologie“ – Eine Modeschöpfung desIdealismus. In: ders., Vier Kritiken: Heidegger, Sartre,Adorno, Lukacz, Köln.

de la Vega, Rafael (1977): Ideologie als Utopie, Marburg.

Feher, Ferenc u.a. (1979): Notes on Lukacs’ Ontology. In: Telos 29/1976: 160 – 181.

Geschichte und Klassenbewußtsein heute, 2 Bde., Ffm (1977)

Georg Lukacs Werke (GLW), erschienen im Luchterhand Verlag

Lukacs (1967): Vorwort zur Neuauflage von Geschichte und Klassenbewußtsein, in: Lukacs (1968): 5 – 45.

Ders. (1968): Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied/Berlin; auch in: GLW, Bd. 2.

ders. (1971 a): Die Seele und die Formen, Neuwied/Berlin.

ders. (1971 b): Die Theorie des Romans, Neuwied/Berlin.

ders. (1972): Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die ontologischen Grundprinzipien von Marx, Darmstadt/Neuwied.

ders. (1973): Schriften zur Ideologie und Politik, 2. Aufl., Darmstadt/Neuwied.

Ders. (1977): Kunst und objektive Wahrheit, Leipzig.

ders. (1981 a): Sein Leben in Selbstzeugnissen, Bildern und Dokumenten. Zusammengestellt von Eva Fekete u. Eva Karadi, Stuttgart.

ders.(1981 b): Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog, Ffm.

Mayer, Hans (1988): Ein Deutscher auf Widerruf, Ffm.

Mittenzwei, Werner (1977): Lukacs’ Ästhetik der revolutionären Demokratie. In: Lukacs (1977): 5 – 18.

Raddatz, Fritz J. (1972): Georg Lukacs in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck bei Hamburg.

Ruben, Peter/Warnke, Camilla(1979): Arbeit – Telosrealisation oder Selbsterzeugung der menschlichen Gattung? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1/1979: 20 – 30.

Schmitt, Hans-Jürgen (Hrsg.) (1973: Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption., Ffm.

Tertulian, Nicolas (1979): On the later Lukacs. In: Telos 40/1979: 136 – 144.

Wolf, Ulrich (1986): Georg Lukacs: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Diss. Paderborn.

1 Vgl. Lukacs (1971 a); Georg Lukacs Werke (=GLW) Bd. 15 -17; Lukacs (1971 b)1971.

2 In:GLW Bd. 2

3 Vgl. etwa Mayer (1988): 95 f. Ein Deutscher auf Widerruf, Ffm. 1988, Bd. 1: 95 f. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Geschichte und Klassenbewußtsein heute, 2 Bde., Ffm 1977.

4 Vgl. De la Vega (1977) Ideologie als Utopie, Marburg 1977.

5 Lukacs (1981): 42.

6 Ebenda: 58.

7 Lukacs (1962): 14

8 Lukacs (1981): 66

9 Ebenda 72.

10 Lukacs (1973): 327.

11 Lukacs (1967): 12.

12 Zit. Nach Lukacs (1981): 126.

13 Lukacs (1968): 94.

14 Ebenda: 59.

15 Ebenda: 156.

16 Ebenda: 115.

17 Lukacs (1967): 25.

18 Vgl. dazu v.a. den Aufsatz über „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“

19 Vgl. Lukacs (1981 b): 121.

20 Lukacs (1973): 307.

21 Ebenda: 727 – 52

22 Lukacs (1967): 34

23 Ebenda: 35.

24 Vgl. Mittenzwei (1977)

25 Benseler (1979): 156.

26 Lukacs (1977): 82.

27 Lukacs (1981 b): 92.

28 Vgl. dazu die in Schmitt (1973) dokumentierte Kontroverse.

29 Raddatz (1972): 78.

30 So akzeptierte er nun ausdrücklich die in Geschichte und Klassenbewußtsein noch abgelehnte Naturdialektik. Diese sei jedoch nur die „Vorgeschichte“ zur Dialektik des gesellschaftlichen Seins. Vgl. Lukacs (1981 a): 269.

31 Brief v. 15.2.1969, zit. nach Tertulian (1979).

32 Lukacs (1972): 11.

33 Ebenda: 11 f.

34 MEW 23: 193.

35 Lukacs (1972): 12.

36 Beyer (1970); stichhaltiger Ruben/Warnke (1979).

37 Vgl. Feher u.a. (1976).

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